Die Schattenseiten des Lebens

Schatten

Mein Zimmer lag im Schatten und ich fand diese Verbindung zwischen mir und meinem Zimmer ungeheuer faszinierend, denn auch ich lag im Schatten. Immerzu. Im Schatten meiner Schwester, im Schatten meiner Klassenkameraden, im Schatten der Nachbarskinder. Und wenn gerade keiner von ihnen greifbar war, dann stand ich in den Augen meiner Mutter im Schatten der „anderen“. Die „anderen“ waren eigentlich alle – außer mir versteht sich.

Mein Zimmer und ich hatten noch etwas gemeinsam: wir konnten beide nichts dafür. Ich konnte nichts dafür, dass meine Schwester hübscher war, dass unsere Mathelehrerin meine Klassenkameraden lieber mochte als mich und dass die Kinder von unseren Nachbarn immer sauber und wohlerzogen waren. Und mein Zimmer konnte nichts dafür, dass draußen Bäume direkt vor dem Fenster wuchsen. Ich nahm mir vor, sollte ich das Haus irgendwann einmal erben, die Bäume umzupflanzen, vor ein anderes Zimmer, wo sie nicht störten. Ich könnte sie auch auf das Haus verfrachten, da waren sie sogar noch näher an der Sonne, aber wir hatten kein Flachdach leider.

Die Straße, in der unser Haus mit meinem schattigen Zimmer stand, war grau und trostlos. Das einzige wirklich sehenswerte war der Schneemann aus Pappe, der seit gefühlten hundert Jahren bei Frau Weber im Garten stand. Sie liebe den Winter einfach, sagte Frau Weber oft, auch wenn man sie nicht fragte. Wenn es regnete oder schneite spannte sie neben ihm einen Regenschirm auf. Sie hatte sogar eine ganze Vorrichtung dafür gebaut, damit er perfekt stehen blieb und der Schneemann auch ja keinen Tropfen abbekam. Einmal war die Vorrichtung kaputt gegangen, da blieb sie den ganzen Nachmittag tapfer neben ihm stehen und hielt den Schirm selbst. Ich sah aus dem Fenster wie Herr Nölte von gegenüber zu ihr trat, er rauchte eine Zigarette. Ich sah, wie er ihr seine Jacke um die Schultern legte und sie zu ihm auflächelte. Er stand fast eine Stunde bei ihr, dann hörte der Regen auf, sie gab ihm seine Jacke zurück, klappte den Schirm zu und ging ins Haus. Und Herr Nölte ging hinterher.

Ja, manchmal geschahen schon spannende Sachen in unserer grauen Straße. Auch in meinem schattigen Zimmer geschah hin und wieder allerlei. So hatte ich zum Beispiel einmal, als ich noch in die Grundschule ging, eine weiße Maus gefunden, am Spielplatz im Gebüsch. Ich nahm sie heimlich mit nach Hause und versteckte sie in einem Schuhkarton. Als ich am Tag darauf in der Schule war, startete die Maus eine Befreiungsaktion und knabberte sich durch die Pappe. Ich muss an dieser Stelle erwähnen, dass meine Mutter keine Mäuse mochte. Und dass ich von dem Tag an keine Staubsauger mehr mochte. Ich beerdigte den Staub, der sich in dem Staubsaugerbeutel befand, im Garten unter dem größten Baum. Dem, der meinem Zimmer am meisten Licht nahm. Es war sehr poetisch und traurig. Danach sah ich im Fernsehen Tom und Jerry.

Das war auch so eine Attraktion in unserer Straße: Fernsehen. Das durften die meisten Kinder zuhause nämlich nicht, also kamen sie zu uns um „Mathehausaufgaben zu machen“ oder, wenn es nicht ganz so sehr gelogen sein sollte, um „zu spielen“. Tatsächlich sahen die sauberen und wohlerzogenen Nachbarskinder dann den ganzen Tag Jugendserien. Oder nicht ganz jugendfreie Serien. Die Fernbedienung wurde herumgereicht, ebenso die Süßigkeiten, die die sauberen und wohlerzogenen Kinder eigentlich auch nicht essen sollten. Und die Eltern wunderten sich, wo ihre Sprösslinge die Sachen auf den Wunschzetteln herhatten, denn die sah man eigentlich nur in der Werbung.

Die letzte nennenswerte Geschichte ist die von Herrn Nöltes plötzlichem Tod. Zuerst dachte man, sein ständiger Husten wäre auf eine Erkältung zurückzuführen, doch er hatte keinen Schnupfen. Frau Weber tippte auf eine Allergie, doch er hatte keine Pusteln oder ähnliche Merkmale dafür. Ich tippte auf eine Raucherlunge – und tatsächlich war das der Grund. Unser Lehrer erklärte uns, dass Herr Nöltes Lunge ganz und gar schwarz geworden ist und die aus meiner Klasse, die neben den Süßigkeiten und der Fernbedienung im Schrank meiner Mutter hin und wieder auch Zigaretten gefunden hatten, wurden blass wie Frau Webers Schneemann.

Ich würde sagen, mir und meinem Zimmer geht es doch eigentlich ganz gut. Wir haben weder einen Freund aus Pappe, für den wir uns innerhalb eines nasskalten Herbstes gleich drei Lungenentzündungen geholt haben, noch sind wir von einem Staubsauger verschluckt worden. Wir haben einen Fernseher und müssen nicht heimlich bei anderen Familien um Süßigkeiten betteln. Ach ja, und wir leben noch. Immerhin.

24. Februar 2011

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