Warum die Sonne lacht

Sonne

Die Sonne streckte ihre Arme nach dem Rand der Welt aus, strich sanft über die Wipfel der Bäume, liebkoste mit zarten Fingerspitzen schneeverzierte Bergkuppen und versank schließlich in inniger Umarmung im Meer.

Tonia stand auf einer dieser Bergkuppen und war mittendrin in der strahlenden Wärme ihrer alten Freundin. Wie sehr hatte sie ihr gefehlt! Der Tod tauchte so leise und plötzlich auf wie immer, doch Tonia erschrak trotzdem. Die Wärme verschwand, Kälte machte sich breit; sie schlang die Arme um ihren Körper und blickte ihm entgegen, wie er auf sie zulief, ohne Eile. „Da bist du“, sagte er mit müder Stimme. „Da bin ich“, antwortete das Mädchen. Er brachte ein Lächeln zustande, als er merkte wie angestrengt Tonia versuchte keine Furcht zu zeigen. „Du hast Angst“, stellte er sachlich fest. „Natürlich“, erwiderte sie. „Hast du keine?“ Der Tod zog verwundert eine Augenbraue hoch. „Ich? Wovor sollte ich Angst haben?“ Tonia machte einen kleinen Schritt auf ihn zu. „Mir“, sagte sie, doch ihre Stimme war eine Spur zu sanft. Er öffnete die Arme, obwohl er nicht damit rechnete, dass sie so leicht nachgab. Dieses Mal überraschte sie ihn.

Tonia trat, anders als bei den letzten beiden Treffen, noch ein Stück näher und … öffnete ebenfalls die Arme. Der Tod starrte auf die Einladung, er hatte seine sorgsam ausgewählten Worte verloren, irgendwo zwischen den Bäumen mussten sie jetzt darauf warten, dass er sie wiederfand. „Komm“, lockte das Mädchen. „Du musst das alles nicht mehr machen.“ Das alles, sagte sie, und meinte doch nur eines. Reisen. Menschen abholen. Sie abholen.

Der Tod und sie, beide mit geöffneten Armen, standen sich stumm gegenüber. Waren es Stunden? Oder Jahre? Die Dunkelheit umhüllte sie, den Tod und das Mädchen, den Einsamen und die Sterbende.

Und dann überraschte er sie, aber am meisten sich selbst, als er mit einem dankbaren Seufzen in ihre Arme sank. Sie umhüllte ihn mit dem Mantel der Liebe und endlich – endlich! – war sie vorbei, seine Suche, ja fast schon fanatische Jagd, nach Seelen, nach Herzen, nach menschlicher Wärme. Er hatte sich so gesehnt. Jahrzehnte, nein, Jahrhunderte! Geträumt, gehofft, gebangt. Und endlich konnte auch er sich einfach fallen lassen. Sein Lachen, befreit und glücklich, schwebte über die Wipfel der Bäume, über die Kuppen der Berge und über das Meer, da lachte auch Tonia und ihre alte Freundin, die Sonne, stimmte mit ein.

Wenn man nun also zum Himmel emporblickt und denkt, dass die Sonne so herrlich strahlt, dann hat der Tod vermutlich gerade eben wieder einen Kuss von seiner Tonia bekommen…

21. Februar 2011

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